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Zwitschern im Internet

Twitterismus

Zwitschern – die neue Internetkommunikation

 

„Hey there! Muster_mann is using Twitter.

Twitter is a free service that lets you keep in touch with people through the exchange of quick, frequent answers to one simple question: What are you doing? Join today to start receiving Muster_mann’s updates.“

(„Heda! Muster_mann nutzt Twitter. Twitter ist ein kostenloser Service, mit dem Sie mit Menschen durch den Austausch von schnellen und häufigen Antworten auf eine einfache Frage in Kontakt treten: Was machen Sie?

Nehmen Sie heute teil, um von Muster_mann Nachrichten zu erhalten.“)

 

(Begrüßung bei twitter.com, Januar 2009)

 


Bekanntlich begann das drahtlose Kommunikationszeitalter, als US-Präsident Theodore Roosevelt im Januar 1903 das erste Telegramm über den Atlantik funkte, sozusagen als Startschuss für unsere heutigen Möglichkeiten, über Telefon, Handy, Computer und Internet mit anderen Menschen in Verbindung zu treten und sich mit ihnen sprachlich und gedanklich auszutauschen. Ach, wie trist aber war selbst noch die Zeit vor zwanzig Jahren, als ich zur Überbrückung meiner Langeweile in Bussen und Bahnen zu einem Buch greifen musste, das ich mir vorsorglich eingesteckt hatte. Heute ist das alles anders. Kaum sitze ich im Bus, dauert es nicht lange, bis in meiner unmittelbaren Nähe mindestens ein Fahrgast lauthals über sein Handy kommuniziert. Fast schäme ich mich, es zu sagen: Ich genieße es, auf diese Weise Näheres über meine Mitmenschen zu erfahren. Dabei gerate ich häufig in Versuchung, mich in die Gespräche einzumischen und bei Beziehungsproblemen Rat­schläge zu geben. Selbstverständlich nutze auch ich die technischen Möglichkeiten, mich zu jeder Zeit mit jedem unterhalten zu können. Darüber hinaus finde ich es ungeheuer praktisch, wenn ich bei Autofahrten meiner zu Hause gebliebenen Gattin regelmäßige Standortmeldungen zukommen lassen kann, damit sie die Pizza bereits vor meiner Rückkehr in den Backofen schiebt und schon mal das Garagentor öffnet.

Es ist wiederum ein amerikanischer Präsident gewesen, der im Informations- und Kommunikationszeitalter des 21. Jahrhunderts neue Maßstäbe gesetzt hat: Barack Obama. Gemäß seinem weltbekannten Motto „Yes, we can“ hatte er bereits während  des Wahlkampfs verstärkt das Internet und dabei den kurz zuvor geschaffenen Internetdienst „Twitter“ als Veröffentlichungsmedium für seine Wahlkämpfer genutzt. „Twitter“ ist eine der berühmten Kommunikationsplattformen im Internet, auf die immer mehr Prominente aufspringen, um ja nichts zu verpassen. Die Nachrichten, die sie verbreiten, werden „Updates“ oder „Tweets“ (von to tweet = zwitschern) genannt. Mithin zwitschern und schnattern die Teilnehmer als sog. Micro-Blogger[1] alles Mögliche in die Welt des Web, auch absolute Belanglosigkeiten. Es ist phantastisch, wie leicht man seine Gedanken und momentanen Befindlichkeiten ergreifend schlicht und für jedermann zugänglich ins Internet bringen kann. Eine Art Tratsch im Treppenhaus, allerdings auf einer gigantischen Basis.


Deshalb ist es mehr als verständlich, wenn zunehmend auch deutsche Politiker das Micro-Blogging als Nachrichtenticker entdeckt haben, ganz nach dem Motto „Yes, we can auch“. Allen voran ein ehemaliger Generalsekretär der SPD, den ich immer eher altbacken als progressiv eingeschätzt hatte. Insofern muss ich reumütig Abbitte leisten. Auf seiner Seite „Hey there! hubertus_heil is using Twitter“ fand ich aufregende Einträge von einem USA-Trip 2008 wie

  • Einen schoenen guten morgen aus den usa. Ich bin gleich im taxi richtung flughafen. Von da aus dann die letzten denver-eindruecke.
  • Die sonne geht gerade auf, die convention ist vorueber und auch meine erste twitter-test-woche geht ihrem ende entgegen.
  • Am ende meines 1. Twitter-experiments moechte ich mich bedanken bei ueber 950, die mir gefolgt sind.
  • Ich mache jetzt ein paar tage pause aber bin mir sicher: zu entsprechender gelegenheit wird weitergetwittert.


Ein fürwahr interessanter Bericht von einer Exkursion und für jeden einsehbar. Hoffentlich noch recht lange. Was wäre, wenn auch unsere Regentin ihre zahlreichen Gipfelreisen gleichermaßen transparent und unterhaltsam unters Volk brächte? Nicht als wöchentlichen Podcast, sondern live in „Twitter“ und so, wie ihr der Schnabel zum Zwitschern gewachsen ist. Leider fand ich auf ihrer Seite nur den Vermerk „This person has protected their updates“, was heißt: Zugriff für mich verweigert. Die angegebenen 89 Tweets sind wohl nur für einen exklusiven Personenkreis bestimmt. Immerhin: Sie zwitschert mit und wahrscheinlich auf höchstem Niveau.


Neben dem SPD-Generalsekretär darf aus Gründen der Ausgewogenheit das damalige Pendant der CDU nicht fehlen. Aus den seinerzeit 80 Updates in „Hey there! Pofalla is   …“ las ich spannende Mitteilungen wie

  • Friseur mit selbst fönen.
  • Scheiße, ich habe die Wahlparty verpennt.
  • Ich muß dringend wieder zum deutschen Volk sprechen.
  • Frühstück mit Angie …

Nun musste ich doch schmunzeln, wie gemeinverständlich sich deutsche Politiker in der Öffentlichkeit präsentieren können. Oder sind solche Ergüsse etwa nicht authentisch? Welch böse Buben sind dann am Werk?


Bei meinen weiteren Recherchen stieß ich auf eine zweite Seite von unserer Regierungschefin. Oder zwitscherte hier die CDU-Parteivorsitzende oder gar ...?: „Hey there! Angie Merkel is …“ mit der Aufforderung „Join today to start receiving Angie_Merkel’s updates. Eine phantastische Entdeckung. Ich las Nachrichten, die an Volksnähe nicht mehr zu toppen sind wie

  • Heute ist Weltkanzlerinnentag: Es gibt lecker Mettbrötchen mit Zwiebeln und jede Menge Publicity.
  • Weihnachtsansprache steht immer noch nicht. Suche noch ein Wort, das sich auf ‚Rekordrezession’ reimt.
  • Pofalla bezeichnet mich als dicke Weihnachtsgans.
  • Scheiße, habe vergessen, meine Weihnachtsansprache zu halten.
  • Kümmere mich endlich um unsere Gasversorgung. Bei Engpässen zapfen wir einfach den  Atomstrom der Franzosen an.
  • Abwrackprämie für alte Meerschweinchen kommt erst im nächsten Jahr.

Ein Update ließ mich hoffen, dass außer Autos bald auch anderer Schrott zur Konjunkturankurbelung staatsbezuschusst abgewrackt werden kann wie z.B. Kaffeemaschinen, elektrische Zahnbürsten oder Computer mit Internetanschluss. Davon habe ich schließlich den Keller voll.


Der damals amtierende FDP-Parteivorsitzender präsentierte sich diesmal nicht in seinem Guidomobil, sondern ebenfalls mit „Hey there! Westerwelle is using Twitter“. Darin standen über 70 staatstragende Nachrichten wie

  • Die deutsche Regierung macht noch immer kleine Tippelschritte, sie reagiert, statt vorsorgend zu regieren.
  • Wir haben jetzt eine gesteigerte Verantwortung in Bund und Ländern.
  • Manche in der CDU begreifen offenbar nicht, wie ernst es die FDP und mir ganz persönlich mit fairen Steuern ist …
  • Aus der sozialen Marktwirtschaft darf keine bürokratische Staatswirtschaft werden, eine Art DDR light.

Zu meiner Überraschung entdeckte ich in diesen Tweets eine alles überragende Sprachqualität, wahrscheinlich als Folge der vorangegangenen Landtagswahl in Hessen. Vorbei ist die Zeit, in der die FDP über die Schuhsohlen ihres Vorsitzenden kommunizierte.


Apropos Hessen. Was „Twitter“ da wohl zu bieten hatte? Ich entschied mich für „Hey there! Andrea Ypsilanti is …“:

  • Notiz an mich selbst: Vor Oskar in Acht nehmen. Der ist ein Stelzbock und will staendig koalieren.
  • Probeabstimmungen liefen ganz gut, hoffe nun auf gute koalitionsverhandlungen.
  • Der Tarek Al-Wazir is ja eigentlich ganz suess… Vielleicht gehen wir mal Kaffee trinken nach den Verhandlungen, machen mich immer so wuschig.

Soso, Verhandlungen machten sie „wuschig“. Was immer das auch sein mochte, viel Gelegenheit dazu dürfte sie jetzt wohl nicht mehr haben.


Und was hatte einer der zahlreichen verflossenen SPD-Vorsitzenden fürs Volk parat? Unter „Hey there! muentefering is …“ lese ich aus 102 Updates:

  • Zum Glück hat es die SPD nicht nötig, saarländische Busfahrer zum kollektiven Parteieintritt zu zwingen. Sowas erinnert mich an die DDR.
  • Kriege viele gute Reaktionen auf mein Buch. Danke dafür.
  • Ich meinte, Merkel will die Renten im Osten (nicht uneigennützig) angleichen.
  • Endlich einmal ein schöner Abend mit Freunden.

Abschließend rief ich die Seite des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten auf. Unter „Hey there! EdmundStoiber is …“ konnte ich lesen:

  • Nach einem ausgezeichneten Frühstück mit, äh, Karin überlege ich, wie ich die Macht in Bayern zurückerobern kann. Bayern gehört mir, äh, mir.
  • Mein Handtelefon klingelt. Es ist äh, Mutter? – nein Karin, äh, äh, wann ich zum Abendessen komme? Ich weiß es nicht! Ich weiß es, äh, nicht.
  • Habe mich also praktisch als Trojaner in Becksteins Schreibtisch, äh, eingenistet. Überraschung: Der, äh, Günther spielt Killerspiele.

 

Ich finde dieses prominente Webgezwitscher jetzt so erfrischend, dass ich kurz davor bin, mich ebenfalls bei „Twitter“ oder bei "Facebook" anzumelden. Unsere Politiker verlieren selbst in einer Finanz- und Wirtschaftskrise größten Ausmaßes nicht die Freude an einem volkstümlichen Internetstadl. Herrlich!

Oder befinden wir uns etwa in einer Kulturkrise? Wir, das Volk der Dichter und Denker!


 

 

  

 

 

 

 

 

 



[1] Ein Blogger ist der Herausgeber eines – meist öffentlich – einsehbaren Tagebuchs auf einer Website im Internet. Dieser sog. Blog (oder Weblog) ist ein Medium zur Darstellung des eigenen Lebens und von Meinungen. Bei „Twitter“ ist dieser Blog auf 140 Zeichen begrenzt (Micro-Blog).